Zum Inhalt springen
Startseite » Wie Sie mir, so ich Ihnen

Wie Sie mir, so ich Ihnen

  • Noticed

Das Deutsche ist bislang reich an Anredeformen. Der darum unvermeidlich entbrannte Kulturkampf bringt ungeahnt Schönes hervor.

Viel ist gesagt worden über die rezenten Auswüchse in der Sprachkultur des Deutschen. Kultur entwickelt sich im Wechselspiel zwischen Bewahrung und Erneuerung, und so wird das, was am Ende übrig bleibt, ein Konsens sein, der sich weder am einen noch am anderen extremen Ende dieses Spektrums festklemmt. Und zum Glück sind die Extremisten der Diskussionskultur auf ihrer Lieblingsplattform inzwischen ja auch weitestgehend unter sich.

Auf dem Weg zu so einem Konsens sind ein paar Reibereien im Übrigen ganz nützlich, erfordern sie doch die Reaktivierung der nur allzu oft gern aus spätrömischer Bequemlichkeit vernachlässigten Qualität des Verteidigens von Standpunkten.

Vollkommen ohne Reibereien hingegen und fast unbemerkt hat sich unterdessen in unserer Sprache eine kulturelle Perle entwickelt, von der ich leider befürchte, dass sie nicht lange Bestand haben wird: der eingeschwungene Duz-Kompromiss.

Vor ein paar Tagen hatte ich wieder ein besonders schönes Erlebnis dieser Art. Es handelte sich um eine geschäftliche Besprechung, die anderen kannten sich bereits, und ich war der Neue.

In vielen Unternehmen, so auch in diesem, hat sich die Duz-Kultur inzwischen weitestgehend durchgesetzt.

Sie entstammt ja einem Irrtum.

Gerne zitiert man die angenehme angelsächsische Art des Umgangs, in der es grundsätzlich nur ein “Du” gebe und unterschiedliche Grade der Vertrautheit über subtilere Sprachmittel kodifiziert sind.

Nun heißt “You” eigentlich “Ihr”: Unsere englischsprachigen Kollegen haben sich unbemerkt eine geradezu mittelalterliche Höflichkeit über alle Ebenen hinweg erhalten. Was übrigens, da man die generelle Anrede in der Mehrzahl gewohnt ist, den Effekt hat, dass man sich mit they/them wesentlich leichter tut. “Thou”, also “Du”, ist hingegen seit Jahrhunderten unüblich, abgesehen von den zehn Geboten jedenfalls, die gottlob (sic!) bisher noch immer als kulturelle Invariante gelten dürfen.

Aber sei es drum – ich find’s schön. Als halbwegs kultivierter Mensch kann ich durchaus die Du-Form mit einer professionellen Distanz verbinden, und ich kenne wenige, die das nicht können. Natürlich kann ich nicht für die ganze Gesellschaft sprechen, aber in meiner Erfahrungswelt geht das in der Regel gut.

Weniger gut geht es immer noch unter vielen Staatsdienern, die ausweislich selbst ihrer digitalen Kommunikation allem Anschein nach überwiegend mit Vornamen “Herr” oder “Frau” heißen, was mangels einer geeigneten nonbinären Form ohnehin abgeschafft gehört. Aber auch hier weht ein Hauch von Frühling durch das Land: in einer Terminbestätigung meiner Gemeindeverwaltung meldete sich neulich tatsächlich eine Mitarbeiterin, die über Vor- und Nachnamen verfügte.

Zurück zum Thema. Da das Siezen in unserer Kultur bis auf Weiteres die Maßgabe für einen Erstkontakt mit einem völlig fremden Erwachsenen ist, gilt es, diese Hürde möglichst geschmeidig zu überwinden. Genau das ist die kunstvoll veredelte Perle, die ich meine.

Unausgesprochen obliegt es dabei einem der Sich-bereits-Duzenden in der Runde relativ am Anfang der Unterredung, das Eis zu brechen. Das heißt, dem Fremden freundlich nahezubringen, dass man sich in einer gewachsenen Duz-Kultur befindet und diesen herzlich einlädt, an dieser teilzuhaben. Dieser hat das in der Regel beim Reinkommen bereits zur Kenntnis genommen.

Gleichzeitig, das wusste schon Sun Tsu, muss man dem Gegner eine Rückzugsmöglichkeit lassen und ihm diese auch aufzeigen. Schließlich könnte es sich um einen der letzten verbliebenen Prinzipien-Siezer handeln, und für diesen Fall muss man ihm zu verstehen geben, dass man seinen Wunsch respektiert und die gewählte Form der Anrede keinerlei Auswirkung auf das Ergebnis des nachfolgenden Gespräches haben wird.

Der Eingeladene wiederum tut gut daran, sich auf die Duzkultur einzulassen, denn “keine Auswirkung” war natürlich gelogen.

Die eigentliche Kunst besteht nun darin, diese Balz elegant, en passant und vor allem schnell über die Bühne zu bringen. Hält man sich nämlich zu lange damit auf, dann schlägt die Nadel zur anderen Seite aus und lässt den Sprecher in einem unschönen Licht des Herumreitens auf Nebensächlichkeiten erscheinen. Hier nun schlägt die Stunde des Gastes, welcher zu angemessener Zeit sein d‘accord signalisiert, das Ritual beendet und somit seinerseits einen Rückzug ermöglicht.

Mein Gesprächspartner jedenfalls hat diese Übung mit Bravour gemeistert. Zieselierte Sprache ist doch in jedem Jahrhundert schön.

Und ich freue mich auf noch viele weitere einander übertreffende Arrangements des eingeschwungenen Duz-Kompromiss, bevor irgendwann wohl das auf dem norddeutschen platten Lande zumindest unter den Alteingesessenen bereits gnadenlos praktizierte generelle Du gewinnt, welches zwar auch seinen Charme hat, aber zumindest dieses schöne Spiel eines Tages so überflüssig machen wird wie das Wörtchen thou.